Jouko ist eine Erscheinung. Knapp zwei Meter misst er, mit Perücke und High Heels sind es deutlich mehr. Denn Jouko ist auch Odette. Als Dragqueen kämpft er für Respekt und Toleranz und dafür, dass die Menschen ihre eigenen Rollenbilder hinterfragen.

Es ist Freitagnachmittag als ich Jouko in seiner Wohnung im Gundeli besuche. Das Wochenende steht vor der Tür, danach macht er einige Tage Urlaub. Grund zu feiern, könnte man meinen, doch von Partylaune keine Spur. Jouko ist fokussiert, ruhig, etwas nachdenklich auch. Das mag daran liegen, dass er Ferien nötig hat. Sein Pensum ist beachtlich. 80% arbeitet er als Physiotherapeut, treibt zudem viel Sport und ist als Odette Hella’ Grand auf Bühnen, Bars und im Fernsehen zu sehen. Über eine Stunde dauert die temporäre Verwandlung zur Frau jedes Mal. Bei unserem Treffen hängen die Bestandteile von Odette im Zimmer nebenan. Jouko sitzt mir mit Dreitagebart und unglaublich blauen, klaren Augen gegenüber. 

Was verbindet dich mit Odette?

Der Körper. Allerdings ist er bei Odette Glitzer und Glamour, im Alltag eher graue Maus. Ich bin auch sehr ehrlich und direkt. Odette ist jedoch noch direkter und noch überspitzter und allein wegen ihrer Präsenz ein politisches Statement: Ein Mann in Frauenkleidern, das polarisiert. Aber ich will die Leute ja nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken bringen und dazu, ihre eigenen Rollenbilder zu hinterfragen. 

Damit löst du auch 2023 noch negative Reaktionen hervor …

Leider ja. Und zu sagen, dass mich diese Tatsache nicht berührt, wäre gelogen. Aber die Leute greifen ja nicht mich an, sondern die Rolle, die ich spiele. Sie sehen in mir etwas, das sie nicht kennen. Etwas, das ausserhalb ihres kulturellen Denkens ist und reagieren mit Ablehnung. Als Jouko fände ich es schwierig, Anfeindungen zu verarbeiten. Als Odette lache ich es weg, mache Witze darüber. Und am Ende wasche ich mir das Ganze mit dem Make-up aus dem Gesicht. 

Gibt es Tage, an denen du auf Odette keine Lust hast?

Klar, denn das Ganze ist anstrengend und tut weh. Die Verwandlung fühlt sich für mich auch nicht mehr so spektakulär an wie am Anfang. Ich ziehe einfach ein Kostüm an – bin natürlich immer wieder erstaunt darüber, wie gut ich aussehe – aber es ist doch normal geworden unterdessen. Sobald ich jedoch auf der Bühne stehe und die Reaktion des Publikums erlebe, ist die Freude wieder da. Besonders schön ist es auch, wenn ich nach der Show mit den Leuten spreche und merke, dass ich sie berührt habe. 

Ich hatte eine wunderbare Kindheit, aber die Schule war schwierig.

Was warst du für ein Bub?

Ich komme aus einer Grossfamilie. Wir waren sechs Kinder, ich der Jüngste. Mein Vater war Abwart in einem Schulhaus im Gellert, wo wir auch wohnten. Ein Quartier mit eher besserverdienenden Familien, wo ich als armer Hauswarts-Sohn abgestempelt war. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, aber die Schule war schwierig. Weil ich immer der Jüngste in der Klasse war. Und gleichzeitig der Grösste. Ich bin also immer aufgefallen. So habe ich schnell gelernt, mir ein dickes Fell zuzulegen.  

Was hingen in deinem Zimmer für Poster?

Da hingen keine Poster, sondern Medaillen vom Sport! Ich spielte lange Zeit Badminton. 

Und dann hast du dich irgendwann einfach verkleidet?

Ich hatte bereits als Kind die High Heels meiner Mutter an. Der Drang, mich kreativ auszudrücken, war immer da. Ich war um die 20, als ich erstmals verkleidet an den Tuntenball im «Elle et Lui» ging. Danach habe ich aus Jux bei einem Wettbewerb an den Arosa Gay Weeks mitgemacht, bin da allerdings grandios auf die Fresse gefallen, im wahrsten Sinne des Wortes; ich bin auf dem Eis ausgerutscht. Trotzdem habe ich das Ding dann gewonnen … 

Sind eigentlich alle Dragqueens homosexuell?

Nein, Sheila Wolf aus Berlin ist zum Beispiel heterosexuell, verheiratet und hat ein Kind. Peppermint oder Carmen Carrera sind Trans-Menschen, Ray Belle ist non-binär und kann auf der Bühne weiblich gelesen werden. Es gibt auch Drag-Kings, also Frauen, die Männer darstellen. Es ist kein Einstellungskriterium, dass du als Dragqueen schwul sein musst. 

Mich wirst du nie zu Lady Gaga performen sehen. Eher zu Shirley Bassey.

Was macht denn eine Dragqueen?

Ich mache Lip-Sync. Quasi Mini-Playback-Show. Es gibt aber auch Leute, die singen live, andere machen Magie oder Comedy, wieder andere tanzen oder machen Akrobatik – jede Dragqueen entscheidet selber, womit sie auf die Bühne will. Bei mir sind Oldies but Goldies hoch im Kurs. Mich wirst du nie zu Lady Gaga performen sehen. Eher zu Shirley Bassey.

Und die Songs übst du vor dem Spiegel?

Oft, ja. Auch um zu sehen, ob der Lip-Sync funktioniert. Das sieht zwar out of Drag meistens sehr doof aus. Erst verkleidet sehe ich, ob alles stimmig ist. 

 Woher hast du die Kostüme?

Ganz am Anfang ging ich in die Übergrössenabteilung bei C&A. Die Cocktailkleider waren zwar etwas knapp, aber es ging. Ich habe dann aber bald angefangen, die Stangenware umzunähen. Heute setzt meine Schneiderin meine Entwürfe um.

Wie gross sind deine Highheels?

Grösse 45. Das gibt’s in einem normalen Schuhladen nicht, aber im Internet findet man ja alles ... 

Und wie hast du darin laufen gelernt?

Ich habs mir selbst beigebracht; ein Fuss vor den anderen. Bei einem grossen Fuss wie meinem ist es rein physikalisch sogar einfacher, weil der Druck besser verteilt wird. Zudem habe ich viel Kraft in den Beinen und kann die Belastung gut ausgleichen. 

Ich finde es extrem schwierig, mit Ungerechtigkeit umzugehen. Davon habe ich genug erlebt.

Was magst du an dir?

Meine Augen mag ich. Und meine Figur. Auch meine Ehrlichkeit und die Direktheit. Und meine Korrektheit. Ich finde es extrem schwierig, mit Ungerechtigkeit umzugehen. Davon habe ich genug erlebt. Zudem wurde ich so erzogen, dass man anständig durch die Welt geht. Wer Gutes tut, bekommt Gutes zurück. 

Was schätzt du an Odette?

Dass sie stinkfrech sein kann ohne Angst vor Repressalien. Es nimmt ihr niemand übel, wenn sie sehr direkt ist. Natürlich bin ich auch als Odette nicht gedankenlos. Homophobe oder rassistische Äusserungen würde ich niemals machen. 

Hättest du gerne mehr Zeit für Odette?  

Nein. Ich bin Physiotherapeut, weil ich Physiotherapeut werden wollte. Ich mache meinen Job gerne und habe einen tollen Arbeitgeber. Das Showbusiness hingegen ist hart und oberflächlich. Dort würde ich nicht glücklich werden, weil ich kein oberflächlicher Mensch bin. Ich habe in der Welt von Glitzer und Glamour, Stars und Sternchen wenig verloren. Das erwartet man nicht, gell?! Doch auch wenn ich die Aufmerksamkeit als Drag geniesse; in meinem privaten Leben bin ich gerne privat. 

Was kann man von dir lernen?

Im beruflichen Alltag natürlich viel! Aber auch, dass man nicht stehen bleibt, seinen Horizont erweitert. Ich hinterfrage mich und auch Odette ständig. Ich habe keine Kunstfigur geschaffen, die immer so bleibt. Sie muss sich weiterentwickeln. Ich muss mich weiterentwickeln. 

Welches ist dein liebster Drag-Moment?

Ich mag Begegnungen mit kleinen Kindern. Sie fragen, was du bist. Du sagst «ein Mann in Frauenkleidern». Sie sagen «ok» und das wär’s. Da gibt es keine Diskussion, Kinder sind vollkommen unvoreingenommen.

Ja, von Kindern kann man viel lernen …

Genau! Ich wünschte mir, die Menschen würden sich mit mehr Respekt und Akzeptanz begegnen. Mit einem gewissen Verständnis. Es gibt eine Rasse und die heisst Mensch. Am Ende sind wir alle 90% Wasser und ein paar Moleküle. 

Oh G! It’s Drag

Seit 2016 stellt Odette Hella’ Grand regelmässig Drag-Shows auf die Beine. Sie moderiert und tritt gemeinsam mit fünf bis sechs Künstlern auf. Die Künstler sind komplett frei in ihrer Performance. Burlesque, Comdedy, Poetry Slam – Odette gibt keine Vorgaben. Ziel der Show ist es, dem Publikum die Drag-Kunst näherzubringen. 

Die nächsten Oh G! It’s Drag-Show gibt’s am 10. Dezember im Radisson Blue Hotel – dort kannst du das Drag-Spektakel während dem Brunchen bei Butterzopf und Granola geniessen. Weitere Daten: 22. Dezember, 8. März und 17. Mai im Sudhaus (Abendvorstellungen).

odettehellagrand.ch