Keine Schreie. Kein Blut. Kein Gemetzel. Dennoch generieren die beklemmenden Arbeiten des italienischen Künstlers Diego Marcon Unruhe und Stress. Warum sich ein Besuch der Ausstellung in der Kunsthalle trotzdem oder gerade deswegen lohnt, liest du hier.

Ich blicke in ein Schlafzimmer. Ungemachtes Bett, Nachttisch, darauf eine Lampe und ein Buch, auf dem Teppichboden ein umgekipptes Wasserglas. Draussen fällt lautlos der Schnee. Eine Amsel sitzt am offenen Fenster und stimmt ein Lied an. Der Mann, der bei seiner im Bett liegenden Frau sitzt, blickt in die Ferne, beginnt zu singen. Eine Schnulze, die einem amerikanischen Musical entsprungen sein könnte. Was auf den ersten Blick wie eine süsse Familien-Szene erscheint, ist das pure Grauen. Der seltsam puppenhaft anmutende Mann singt in zarten Tönen von dem Mord, den er eben begangen hat. An seiner Frau, seinem Sohn, seiner Tochter und an sich selbst. «I guess it’s true, I killed all three of you, but after all I killed myself too» singt er. Und sogar seine Mordopfer stimmen ein in das tragische Lied vom Familienmord. Der computeranimierte Vogel, der künstliche Schnee, die durch Silikonmasken cartoonhaft verzerrten Gesichter der Schauspielenden – das alles erscheint abgründig und düster und so legt sich Diego Marcons Arbeit «The Parent’s Room» wie eine schwere, nasskalte Decke beklemmend über meine Schultern.  

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Noch drückender wird die Last beim Verlassen des ersten Ausstellungsraumes. Ein aufdringliches, metallisches Knallen kommt unberechenbar aus dem Dunkel, mein Körper spannt sich an, erhöht den Puls. Umso mehr, als ich dem Geräusch folge und zu jedem Knall im Dunkel ein verstörendes Bild aufblitzen sehe. «Monelle» heisst diese Arbeit, in deren sekundenkurzen Flashlights junge Frauen in den nüchternen Räumen der Casa del Fascio in Como sitzen und liegen. Müde oder tot? Was tun sie hier in dieser grauenvollen Szenerie? Und was sind das für Geräusche, die zwischen dem aufdringlichen Knallen zu hören sind? Die Casa del Fascio, heute Sinnbild der modernen Architektur, war einst Sitz der Nationalen Faschistischen Partei Mussolinis. Definitiv kein Ort, an dem man sich mal eben etwas hinlegen möchte.  

Ich verstehe, dass ich nicht verstehen muss.

 

Meine Stresshormone beruhigen sich im nächsten Raum. Ich stelle erleichtert fest: Alles hell und ruhig hier. Geduldig und erwartungsfroh steht eine Gruppe kleiner Musikantinnen und Musikanten im Raum, die Instrumente in der Hand, schweigend, still. «La Banda die Crugnola» heisst die Blaskapelle. Sie scheint zu warten. Auf Applaus? Auf den nächsten Auftritt? Auf den Dirigenten? Man weiss es nicht. Meine Anspannung löst sich und ich bin froh, dass aus der Posaune, dem Horn und dem Euphonium der kleinen Gestalten kein Mucks ertönt. 

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Weiter geht’s. Grosse Leinwand – grosses Kino? Zwei animierte Maulwürfe sitzen in Marcons Werk «Dolle» in einem gemütlichen Heim, ein Feuerchen flackert, die putzigen Tierchen lesen. Ewige Listen voller Zahlen. «Venti più cinque più ventuno più diciannove più tre più diciotto più quattro più nove 

più uno più …». Mal krabbelt eine Spinne durchs Bild, mal galoppieren Pferde akustisch über die skurrile Szene, was die Maulwürfe etwas aus dem Takt geraten lässt. Irgendwann beginnt der eine Maulwurf zu gähnen und nickt schliesslich ein, nur um vom anderen sofort wieder geweckt zu werden – es muss weitergerechnet werden. Anfangs denke ich: «Echt jetzt?» Dann versuche ich zusammenzuzählen und stelle fest, dass die Rechnerei überhaupt gar keinen Sinn ergibt, das Resultat immer willkürlich ist. Da bleibt mir nichts anderes, als loszulassen und zu entspannen.

Ich verstehe, dass ich nicht verstehen muss. Die Welt ist ein Irrenhaus. Typen töten ihre Familien, Faschisten verbreiten ihr Grauen, Frauen liegen auf Treppen, Blaskapellen schweigen und kuschlige Maulwürfe rechnen. Dazu schneit es und eine Amsel singt ihr Lied. Vielleicht passiert bald etwas Grauenhaftes, vielleicht nicht. Manchmal zeigt das Leben seine Abgründe, manchmal ist es skurril, manchmal honigsüss. Mit dieser Ambivalenz gilt es zu leben. In Diego Marcons Ausstellung durchlaufe ich in kurzer Zeit ein Wechselbad der Gefühle. Das unberechenbare Grauen ist so schrecklich wie faszinierend, Stumpfsinn kann bestens unterhalten – eine Ausstellung die emotional lange nachhallt. 

Have You Checked the Children?

Ausstellung des italienischen Künstlers Diego Marcon

bis zum 21. Januar 2024 in der Kunsthalle Basel.

kunsthallebasel.ch