Seit bald 50 Jahren betreibt Heinz P. Müller die Kinderautobahn in den Langen Erlen. Bei Wind und Wetter steht er draussen und freut sich über die Kinder, die mit den Elektroautos durch den Verkehrsgarten brettern. Dass Herr Müller dennoch ein Mann von Welt ist, erzählt er bei einem Kaffi Crème.

Dunkelgrauer Anzug, weisses Hemd, rote Krawatte, drüber ein brauner, warm gefütterter Ledermantel und – nicht zu vergessen – der Hut. Heinz P. Müller ist eine Erscheinung. Er könnte Chef einer Fluggesellschaft sein, Anwalt oder Literaturprofessor. Ist er aber nicht. Heinz P. Müller ist Schausteller. Er betreibt die Kinderautobahn in den Langen Erlen. Und dies bereits seit knapp 50 Jahren.

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Ich treffe mich mit Herrn Müller an einem kalten Wintertag bei seiner Autelibahn. Verschnupft ist er, der jeden Tag bei jeder Temperatur hier draussen steht, Zweifränkler wechselt und Eltern und Kinder motiviert, auf die Autos, die Scooter, die Bagger oder das kleine Karussell zu steigen. Im Hintergrund dröhnt 70er Jahre Disco Funk aus den Boxen und lässt mich ein wenig mit den Hüften wippen. Gleichzeitig erlebe ich einen akuten Backflash.

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Es muss zu Beginn der 80er Jahre gewesen sein, als ich selbst als kleiner Knopf glückstrunken mit den bunten Autos über die Strassen der Kinderautobahn gebrettert bin. Der Lack der Autos ist unterdessen matt, die Farben sind verblasst, die Karosserien zum Teil etwas ramponiert und von Flugrost bedeckt. Aber sie stehen immer noch in Reih und Glied, die Autos und Scooter von früher. Für einen Zweifränkler können PS-freudige Buben und Mädchen mit ihnen in den Sonnenuntergang cruisen. Währenddem setzen sich die erwachsenen Begleiterinnen und Begleiter auf die bunt geblümten Kissen der Plastikstühle. Es ist alles wie damals. Auch die Musik. Und die Preise. Ein Retro-Universum. Unfassbar.

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Herr Müller nimmt mich mit ins Café nebenan - «i nimm e Kaffi Crème, isch das machbar?», ruft er dem Betreiber zu, der ihn bestens kennt. Jeder hier kennt ihn, den Herrn der Kinderautobahn. Und nicht nur hier kennt man ihn. Im Laufe seiner bruchstückhaften Erzählungen kann ich nur vermuten, welches Leben der 82-Jährige geführt hat. Mit welchen Menschen er gearbeitet und in welchen Kreisen er gefeiert hat. Ein Kind der Traurigkeit war Heinz P. Müller ganz bestimmt nicht, auch wenn er bei unserer Begegnung etwas angeschlagen wirkt. «Ich bin immer noch etwas erkältet, Sie müssen entschuldigen», erklärt er mir förmlich. «Ich habe gerade gestern eine der letzten Dings geschluckt, ähm – wie sagt man denen, die die Schweine fressen? Damit sie gross und stark werden ...» – Herr Müller kommt nicht drauf, doch ich kann ihm irgendwie nachfühlen. 

Sean Connery lebt übrigens auch in Nassau.

Jeden Tag steht er hier draussen. Auch im Winter. «Ich hatte schon täglich geöffnet, da hatte Roli Mack im Winter noch zu», erzählt er. «Roland Mack, das ist doch …?», frage ich. «Ja, der hat den Europapark aufgemacht», klärt mich Herr Müller auf und ergänzt energisch: «Zufällig. Das war reiner Zufall!». Aber das ist eine andere Geschichte. Herr Müller hat viele andere Geschichten auf Lager. So erfahre ich von einer Zusammenarbeit mit Hazy Osterwald im legendären Hazyland an der Heuwaage. Von einem Nachtclub im Kanton Aargau. Von seiner Kindheit auf dem Bruderholz und von seinen zwei Söhnen, von denen einer mit 24 Jahren gestorben ist. Herr Müller erzählt auch, dass er bereits mit 18 Jahren einen Getränke-Grosshandel betrieb, durch den er schliesslich in Kontakt mit der Vergnügungs-Industrie kam. Und dann zeigt er mir noch ein Foto. «Das ist mein Nachtclub auf den Bahamas, in Nassau. Der wird bald eröffnet. Und davor steht mein Nissan Sunny», erklärt er und sagt «sönni». Den neusten Club baue ihm seine dortige Freundin, die einst im ersten James Bond Film mitgespielt habe. Neben Sean Connery. «Der lebt übrigens auch in Nassau», ergänzt er. 

Die Kinder fahren auch, wenn’s regnet. Die sind wasserdicht wie Omega-Uhren.

So langsam bekomme ich eine Idee davon, wie Heinz P. Müller einst unterwegs war. Der Anzug, die Krawatte, der Hut, die Disco-Musik, ja sogar der 1990er Alfa Romeo Spider, mit welchem mich Herr Müller später – ganz Gentleman – an den Bahnhof fährt, alles ergibt plötzlich Sinn. Herr Müller ist ein Grandseigneur. Mit einem grossen Herz für Kinder. Keinen Tag hat er sich bisher überlegt, die Kinderautobahn aufzugeben. «Es hat mir immer Freude gemacht. Weil Kinder immer lachen. Einige kommen seit drei Generationen zu mir, wissen Sie», erzählt er. Und: «Ich lasse mich erst mit 99 Jahren pensionieren. Die Arbeit auf der Kinderautobahn hält mich jung, frisch und gesund. Dank der Erderwärmung haben wir ja heute praktisch immer offen. Wenn’s regnet, ist natürlich zu, sonst werden mir die Elektroniken nass. Aber die Kinder fahren auch, wenn’s regnet. Die sind wasserdicht wie Omega-Uhren.»

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Und während er mit mir in alten Fotos blättert, auf denen dünne Kinder in roten Kniesocken und gelben Sandalen auf Elektroscootern zu sehen sind, geht mir durch den Kopf, dass ich keinen Ort kenne, an dem die Zeit dermassen stehen geblieben ist, wie auf dieser Autobahn. Und dass es doch ganz und gar zauberhaft ist, dass hier bis heute keiner einen SUVA-geprüften Helm tragen oder eine Erklärung zur Wahrnehmung der Aufsichtspflicht ausfüllen muss. Was vielleicht auch daran liegt, dass es bis heute noch keinen einzigen Unfall gegeben hat. «Klar schlägt mal ein Kind irgendwo die Nase an», schmunzelt Herr Müller, «doch eine Minute später sitzt es bereits wieder auf einem Auto mit dem glasigen Blick von Geschwindigkeitswahn.» 

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Dann machen wir uns auf den Weg, Herr Müller will nach Hause, er friert. Und im Auto kommt es ihm plötzlich in den Sinn, das Wort, nach dem er ganz am Anfang unseres Gesprächs gesucht hat: «Antibiotika heissen sie, diese Tabletten!». Es ist ganz klar nicht sein Klima hier. Normalerweise reise er im Winter auf die Bahamas, aber das sei nun wegen dem Wirbelsturm nicht möglich, erzählt er mir noch, bevor wir am Bahnhof ankommen, er sich höflich von mir verabschiedet und in seinem dunkelroten Cabrio davonbraust.

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1972 übernahm Heinz P. Müller von Gusti Berner, dem stadtbekannten Erlenpark-Wirt, den Betrieb der Kinderautobahn. Damals war er 32 Jahre alt. Der Verkehrsgarten soll den jüngsten Verkehrsteilnehmern spielerisch das richtige Verhalten im Strassenverkehr beibringen. Die Elektroautos fahren mit 12 Volt Batterien, die jeweils über Nacht in der Werkstatt geladen werden. Die Werkstatt befindet sich noch immer im alten Restaurationsgebäude von 1895. 

Die Kinderautobahn hat täglich von 13 Uhr bis Sonnenuntergang geöffnet. Während der Schulferien sogar bereits ab 10 Uhr. Eine rund zweiminütige Fahrt auf einem Auto oder einem Scooter kostet zwei Franken. Auch eine Runde Baggern oder Karrussell fahren kann man für einen Zweifränkler. Eine Riesengaudi!