Was tut man in einer fremden Stadt während eines Lockdowns? Man sucht sich ein Bänkli an der Sonne und lässt der Kreativität freien Lauf. So hat es zumindest Lukas Nathrath getan.
Seit zwei Jahren kommen immer wieder junge Filmschaffende aus aller Welt nach Basel, um hier an ihren Projekten zu arbeiten. Begleitet vom umtriebigen Regisseur und Produzenten Giacun Caduff schreiben, zeichnen und schneiden sie an ihren Filmen und entdecken nebenbei die für sie fremde Stadt.

Bist du schon einmal in der legendären «Schlugg­stube» versumpft? Kennst du das Vintage­-Paradiesli «Fresh Up» oder wusstest du, dass im «L’Unique» eine Lederjacke von Elvis Presley hängt und der Songtext vom Nirvana-Hit «Smells Like Teen Spirit» – im Original? Das Gerbergässlein ist eine wahre Fundgrube! Ein weiteres Einod ist das Filmhaus; ein schmaler, fünfstöckiger Altbau mit Virtual Reality­ Kino, Bar, Schnittplatz, diversen Büros und einer Residenz für junge Filmschaffende. Wer sich unter «Residenz» eine prunkvolle Woh­nung vorstellt, irrt. Es handelt sich hier um eine spär­lich möblierte, aber gemütliche und helle Mansarde unter dem Dach. Seit 2019 kommen in regelmässi­gen Abständen junge Filmerinnen und Filmer aus aller Welt hierhin, um an ihren Drehbüchern zu schreiben, Storyboards zu zeichnen oder einen Film zu schneiden. Die Residenz wird betrieben vom Verein mit dem etwas sperrigen Namen «Verein für die Förderung der Begeisterung am bewegten Bild (VFBbB)». Er ist verantwortlich für das charmante Gässli Film Festival und betreibt mit dem Filmhaus eine Zentrale regionalen Filmschaffens. 

ICH BIN NICHT NUR EIN LEIDENSCHAFTLICHER FILMER, SONDERN EIN EBENSO LEIDENSCHAFTLICHER UNTERNEHMER. Giacun Caduff, Filmemacher

Kopf hinter dem Ganzen ist der umtriebige Filmemacher Giacun Caduff. Der in Gempen aufge­wachsene Regisseur und Produzent war mit dem Kurzfilm «La femme et le TGV» mit Jane Birkin bereits für einen Oscar nominiert. Einst studierte er in Los Angeles und arbeitete als Praktikant für John Malko­vich. Heute ist er Mitglied der Oscar Academy und des Schweizer Filmpreises. Er macht Filme, organi­siert das Autokino in Pratteln, plant, rechnet und vermarktet quasi rund um die Uhr und hat immer wieder neue Ideen. Zum Beispiel funktionierte er mit Freunden einen alten London­-Bus zum Restaurant um. Neben all dem unterstützt er mit einem enga­gierten Team die jungen Filmschaffenden in der Residenz. Warum? «Weil ich eben nicht nur ein leidenschaftlicher Filmer, sondern ein ebenso leidenschaftlicher Unternehmer bin», erklärt Giacun. 

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AM FLUSS FLIESST AUCH DIE KREATIVITÄT

Eine der ersten Bewohnerinnen der Residenz war die norwegische Filmemacherin Marianne Lauritsen. Anfang 2020 kam sie von den Lofoten nach Basel, um für einige Wochen in Ruhe an eigenen Projekten zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln. «No pressure» lautet denn auch die Devise im Filmhaus. Passte so für Marianne. Ihr diente die Zeit in Basel als Kreativpause und Energiequelle. Auf die Frage, warum sie sich als junge Filmschaffende ausgerech­net für Basel entschieden hatte, wo die Chance, auf Steven Spielberg, Martin Scorsese oder Spike Lee zu treffen, gleich Null ist, antwortete sie lapidar: «Die Stadt hat einfach zu mir gepasst.» Die Architektur, das kulturelle Angebot, die Sprache – da hatte sie Lust drauf. 

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WENN ICH NICHT MEHR WEITERKAM, SCHAUTE ICH AUF DEN RHEIN UND DER KREATIVE FLOW KAM GANZ VON ALLEINE. Lukas Nathrath, Regisseur

Auch der deutsche Regisseur Lukas Nathrath nutzte seine Zeit in Basel zur Inspiration. Er, der bislang vor allem als fieser Typ oder Mörder in Serien wie «Der Alte» oder «SOKO München» zu sehen war, sieht seine zukünftige Karriere nun vermehrt hinter der Kamera. Nach Abschluss seines Studiums an der Hamburger Media School besuchte er Basel im Frühling 2020 zum ersten Mal. Sein Fazit: «Ich war überrascht von der Weltoffenheit und der Vielfalt der Stadt. Basel ist weder engstirnig noch einseitig, wie es sonst über manche Teile der Schweiz gesagt wird.» Besonders viel Zeit verbrachte er während des ersten Lockdowns auf einem Bänkli am Rhein – Stadtidylle pur. Sobald er es sich dort bequem gemacht hatte, schaltete er sein Handy aus und entschwand in den magischen Zustand der Kreativi­tät. Giacun hatte ihm den Input gegeben, sich vermehrt aus der Welt auszuloggen und das Handy wegzulegen. Stundenlang tüftelte Lukas fortan ungestört an seinem Drehbuch. «Und wenn ich nicht mehr weiterkam, schaute ich auf den Rhein und der kreative Flow kam ganz von alleine», erzählte er im Gespräch. 

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LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK 

Im vergangenen Sommer kam schliesslich die polnische Filmemacherin Katarzyna Iskra (kurz Kasia) in die Residenz am Gerbergässlein. Mit einem von Giacun geliehenen Velo erkundete sie ihre neue Heimat auf Zeit, in welche sie sich sofort verliebte: «Ich war überrascht, wie gut das Leben hier ist. Die Leute schwimmen im Fluss, sitzen und plantschen im Brunnen oder sind zu jeder Tageszeit mit dem Fahrrad unterwegs. Zudem schätze ich die moderne, offene und entspannte Einstellung der Menschen», erzählte sie verzückt. Während ihres Aufenthaltes erkundete sie das Gundeli, das St. Johann oder das Matthäus­-Quartier im Kleinbasel, wo sie das Café «Frühling» zu ihrem Lieblings­-Café auserkor. Sie war von der Stadt dermassen begeistert, dass sie sich sogar vorstellen könnte, hier zu leben. «In Basel kannst du urbanes Stadtfeeling erleben und gleichzeitig in der Natur sein. Normalerweise muss man zwischen diesen verschiedenen Arten zu leben wählen. Hier ist alles auf kleinstem Raum möglich.» Falls es mit der Filmkarriere nicht klappen sollte, wäre Kasia in jedem Fall eine wunderbare Werbebotschafterin für Basel. 

ICH WAR ÜBERRASCHT, WIE GUT DAS LEBEN HIER IST. Katarzyna Iskra, Filmemacherin

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Die deutsche Regisseurin Maria Neheimer, die im vergangenen Herbst die Filmemacher-­Residenz bewohnte, arbeitete in Basel an ihrem Spielfilmde­büt. Ein Grossprojekt, bei dem sie im Filmhaus professionelle Unterstützung erhielt. Sie erlebte Basel in ganz unterschiedlichen (Pandemie­-)Phasen. Als sie im September ins Filmhaus einzog, hatte der Rhein noch Bade­Temperatur und die Bars boten kühle Drinks an. «Ich war abends viel unterwegs, bei­spielsweise im Renée oder im Rouine. Aber auch öfters in der Schluggstube – ein sehr kurioser Ort», grinste Maria. Als die Gastronomiebetriebe schlies­sen mussten, zog es sie vermehrt in die Natur. Spazierend traf man sie zwischen Wiesendamm und deutscher Grenze an («das ist voll das Hobbit-­Land, total märchenhaft!») oder am Rhein («um die Gedan­ken und Ideen zu sortieren»). Ganz allgemein fand Maria die Lebensqualität in Basel «einfach krass hoch». 

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DIE LEUTE SOLLEN SEHEN, DASS WIR FILMFREAKS GANZ NORMALE, LOCKERE LEUTE SIND, DIE HALT EINFACH DIESE EINE PASSION HABEN. Giacun Caduff

AUSGEBUCHT UND VIELVERSPRECHEND 

Auch im aktuellen Jahr ist die Residenz bereits ausgebucht. Es kommen Filmemacher aus dem Iran, aus Kasachstan, aus Bulgarien und England – sofern die Einreise denn erlaubt ist. Ihnen allen stehen Giacun und das ganze professionelle Team bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite. «Ich hatte schon Residenten, die arbeiteten bei mir zu Hause, beglei­teten mich an jede Party und lernten sogar meine Eltern kennen», erzählt er. «Andere haben sich ihr Netzwerk ganz alleine aufgebaut und die Stadt auf eigene Faust erkundet.» Willst auch du das Filmhaus einmal von innen sehen? Dann besuchst du am besten einen der öffentlichen Events. In den vergangenen Jahren gab es bereits hin und wieder Test­-Screenings, Lesun­gen von Drehbüchern oder Jam­-Sessions. Per sofort sollen die Events wenn möglich regelmässig statt­finden. «Wir wollen die Bevölkerung zu uns holen. Die Leute sollen sehen, dass wir Filmfreaks ganz normale, lockere Leute sind, die halt einfach diese eine Passion haben.» Ob Tom Cruise und Angelina Jolie normale Leute sind, wissen wir nicht. Bei Giacun Caduff sind wir uns aber sicher: Der ist zwar schon irgendwie exzentrisch, aber auch herzerwär­mend locker und erfrischend normal.